pmv Peter Meyer Verlag
03.07.2024

Ist Reisen sinnfrei?

Daheimbleiben sei ausnahmslos besser als Reisen, heißt es auf vollen drei Seiten einer deutschen Wochenzeitung. Unser reisender Gastautor hält dagegen und zeigt, warum man nicht jede (philosophische) Mode ernst nehmen muss.

Ein Kommentar von Peter J. Endres

Ein alter Zug am leeren Bahnhof von Riga. Eine Frau steigt aus, eine ein.
Ende und Anfang einer Reise. Eine Momentaufnahme. Foto: Peter J. Endres

Um es vorweg zu nehmen: Ich habe mich über den Text von Agnes Callard geärgert. Warum die „taz“ am 29.6.24 die vor mehr als einem Jahr wohl erstmals im „New Yorker“ erschienene Arbeit der Chicagoer Philosophin nun in breitester Aufmachung übersetzt nachdruckt, erschließt sich mir nicht. Argumente gegen den Massentourismus gibt es natürlich annähernd so viele wie daran Teilnehmende, und keines der Argumente wäre neu. Doch die US-amerikanische Philosophin bringt sich anders ins Gespräch: Nix als Selbstbetrug sei es, das Reisen. Und sie liefert die Antithese gleich mit: Wer etwas anderes denke, dessen Wahrnehmung sei gestört – denn auf Selbstprüfung könne und dürfe man sich schließlich nicht verlassen.
Na ja.


Zwei Frauen stehen auf der Straße und reden, die eine hält einen Lippenstift am Mund
Flüchtige Begegnung und Verweilen. Eine Momentaufnahme. Foto: Peter J. Endres

"… den eigenen Körper von A nach B zu bewegen"

Wohl gemerkt: Callard geht es nicht um Auswüchse des Massentourismus. Klimakrise, Ökologie und Nachhaltigkeit werden in keiner Silbe auch nur angerissen. Es geht ihr ums Reisen per se. Nicht zuletzt um ihr eigenes. Zu ihrem Ausflug in eine Klinik für Falken in Abu Dhabi schreibt die Chicagoerin: „Wenn man sich etwas ansieht, das man weder wertschätzt, noch vor hat, es wertschätzen zu lernen, tut man doch eigentlich nicht viel mehr, als den eigenen Körper von A nach B zu bewegen.“ Wer wollte da widersprechen?

 

Zwei Freundestehen hinter der Metzgertheke und halten sich im Arm. Sie lachen in die Kamera
Freunde. Offen für Fremde. Foto: Peter J. Endres

„Ich verabscheue … unbekannte Orte.“

Callard führt bedeutende literarische Zeugen für ihr Beharren in der eigenen Burg an: Ralph Waldo Emerson, G. K. Chesterton, Fernando Pessoa. Den Portugiesen zitiert sie mit dem Satz, „Ich verabscheue … unbekannte Orte.“ Wie authentisch diese Aussage bei einem Literaten ist, der sich einer Vielzahl von Heteronymen bediente – also für seine Texte fiktive Autoren erfand, die er mit einer jeweils komplexen Biografie ausstattete – mag einmal dahingestellt bleiben. Und den Normalleser bescheidet sie, entgegen aller Behauptungen komme niemand mit einem veränderten moralischen Kompass von einer Reise zurück: „Wir wissen schon, wie wir sein werden, wenn wir wieder zu Hause sind.“

 

Bunte Klappstühle vor einem blauen Türladen, Abendstimmung in der Provence
Versöhnlich. Reisen ist auch das. Foto: Peter J. Endres

Offenheit ist der Schlüssel zur Veränderung

Ist Reisen also schlimm und sinnfrei? Alles nur Selbstbetrug und Prahlerei in „sozialen“ Medien? Machen Sie die Gegenprobe. Nehmen Sie zum Beispiel den pmv-Band „Rezepte für eine lebenswerte Stadt – Cittaslow“, besuchen Sie eine Stadt in Ihrer Nähe, die auf Langsamkeit und Nachhaltigkeit setzt, und lernen Sie dort Menschen und Projekte kennen. Verzichten Sie darauf, etwas von vornherein nicht wertschätzen zu wollen. Offenheit ist der Schlüssel zur Veränderung.


* Quelle: Agnes Callard, „Der große Selbstbetrug“, Wochentaz, 29. Juni bis 5. Juli 2024, Seiten 25 – 27

Agnes Callard (1976 in Budapest geb.) ist eine amerikanische Philosophin und außerordentliche Professorin für Philosophie an der University of Chicago. Ihre Schwerpunkte sind antike Philosophie und Ethik. Sie ist auch bekannt für ihre populären Schriften und Arbeiten zur öffentlichen Philosophie.

Hier geht es zum Artikel in der taz.


Peter J. Endres, geboren in einem seinerzeit noch ländlich geprägten Stadtteil von Frankfurt am Main, dort Studium der Literaturwissenschaft und Soziologie, freiberuflicher Journalist und Redakteur bei verschiedenen TV-Sendern, darunter SWR und hr in den Ressorts Aktuelles/Zeitgeschehen und Kultur. Stadtflüchtiger, Genießer, Fotograf und Vater zweier ebenfalls polyglotter Söhne.

– Peter J. Endres


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